Selbst-Täuschung

Immanuel Kant sagte einst, ein Ding könne nie an sich selbst erkannt werden – alles Wissen darüber sei Projektion. Was wir „Realität“ nennen, ist durchdrungen von Träumen und inneren Bildern. In den spirituellen Traditionen wird Maya als Illusion oder Scheinwelt bezeichnet, die den Menschen daran hindert, ihre wahre Natur zu erkennen. Die Kraft der Maya steht für die menschliche Unbewusstheit und Unwissenheit. Maya ist die diabolische hypnotische Zauberkraft des Verstandes, der Wunschträume und Illusionen erschafft, die stets Ernüchterung und Frustration zur Folge haben. Maya ist die illusorische Vorstellung, in einer „realen“ Welt der Dualität, Polarität und Getrenntheit zu leben.

Maya wirkt auch in Beziehungen: Wenn zwei Menschen sich verlieben, zeigen sie einander nur ihre besten Seiten. Unangenehmes wird verdrängt, künstliche Masken entstehen – Idealisierungen, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Doch früher oder später platzt der Traum: Die Realität bricht durch. Zurück bleiben oft Wut, Enttäuschung oder Hass. Wo Liebe ist, ist auch ihr Gegenteil möglich – beide Pole existieren gleichzeitig. Dieses Spannungsverhältnis nennen wir Liebes-Hass. Maya ist die täuschende Kraft des Geistes. Sie erschafft Träume und lässt uns glauben, sie seien real. Doch selbst wenn sie zerbrechen, heißt das nicht, dass wir erwacht sind – meist suchen wir nur nach Schuldigen. Die Verantwortung wird nach außen projiziert.

Maya lebt von Unwissenheit: Erst erschaffen wir Illusionen, dann folgt die Enttäuschung. Der Weg aus diesem Kreislauf führt nur über Bewusstwerdung – durch Meditation. Denn Meditation bringt den Strom unbewusster Projektionen zum Stillstand. Sie hebt die hypnotische Wirkung der Maya auf und transformiert sie in klares Gewahrsein. Die Befreiung von Maya bedeutet nicht, der Welt zu entsagen oder sie zu verleugnen, sondern ihre wahre Natur als eine Manifestation des Göttlichen zu erkennen. Durch Meditation und Selbsterkenntnis wird es möglich, die Illusion zu durchschauen.

Höhlengleichnis

Platon erklärt den Unterschied zwischen Realität und Illusion in seinem Höhlengleichnis: Es beschreibt eine Gruppe von Menschen, die seit ihrer Geburt in einer Höhle gefangen und gefesselt sind. Sie blicken alle auf eine Höhlenwand, auf der die Schatten von Personen und Gegenständen zu sehen sind, die sich am Eingang der Höhle hin und her bewegen. Die durch das Sonnenlicht erzeugte Bildprojektion können sie nicht als solche erkennen, da sie mit dem Rücken zum Höhleneingang sitzen. Selbst als sich einer von ihnen befreit und die wahre Realität außerhalb der Höhle erkennt, lehnen die anderen Gefangenen seine neuen Einsichten ab. Sie haben sich ihr Leben lang an die Schatten als ihre „Wirklichkeit“ gewöhnt und wollen keine neue Perspektive zulassen.